Was versteht man unter dem Stendhal-Syndrom?
1817 erlebte der französische Schriftsteller Stendhal beim Besuch der Basilika Santa Croce in Florenz eine Art psychologische Reizüberflutung, in der damaligen Zeit auch Nervenanfall genannt. Dieser Zustand stellte sich ein, nachdem Stendhal lange Zeit das Fresko von Volterranos Sibyllen betrachtet hatte. Der Autor beschrieb, dass er nach dem Verlassen der Basilika Herzklopfen, Angst, Ekstase und Gleichgewichtsverlust verspürte. Die italienische Psychologin Graziella Magherini prägte im Jahr 1989 den Begriff Stendhal-Syndrom.
Sie tat dies, nachdem sie als Leiterin der psychologischen Abteilung des Krankenhauses Santa Maria Nuova in Florenz über insgesamt 106 Patienten berichtet hatte. Diese wurden zwischen 1977 und 1986 in die Klinik eingeliefert, nachdem sie das reichhaltige Kunstangebot der Stadt Florenz auf sich hatten wirken lassen. Diese Patient*innen wiesen alle die gleichen psychiatrischen Symptome wie Angstzuständen, Psychosen und Paranoia auf.
Anfangs blieben Graziella Magherinis Erkenntnisse unbemerkt, doch nach der Veröffentlichung des Films The Stendhal Syndrome (1996) unter der Regie von Dario Argento gewann das Thema in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit an Popularität.
Anmerkungen zum Stendhal-Syndrom
Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass das Stendhal-Syndrom in der Wissenschaft auf wenig Interesse gestoßen ist. Es gibt nur wenige Studien dazu, und in der neuesten Ausgabe des DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ist es nicht enthalten. Generell gesehen wurde das Stendhal-Syndrom nicht mit Stendhals Erlebnissen in Florenz geboren, sondern ist vielmehr ein historisches Faktum, über das bereits seit Jahrhunderten berichtet wurde.
So ist zum Beispiel bekannt, dass Pilger, die Orte wie Mekka oder Santiago de Compostela bereisten, durch die Euphorie eine Veränderung ihres Verhaltens und Denkens erlebten.
Noch ein Gedanken zum Thema Pilger: Denke daran, dass viele von ihnen das sogenannte Jerusalem-Syndrom entwickeln. Fachleute fanden heraus, dass letzteres bei Menschen mit psychiatrischen Vorerkrankungen nicht in allen Fällen auftritt.
Schriftsteller und Philosophen wie Marcel Proust, Fjodor Dostojewski, Rainer Maria Rilke, Immanuel Kant, Carl Gustav Jung und Sigmund Freud berichteten von ähnlichen Erfahrungen. Wie du also siehst, hat es das Stendhal-Syndrom schon immer gegeben, und es ist nicht etwas, das alle Menschen gleichermaßen oder mit der gleichen Intensität betrifft. Forscher*innen betrachten das Stendhal-Syndrom nicht als psychiatrische Störung – obwohl sie landläufig häufig so betrachtet wird.
Wer ist vom Stendhal-Syndrom betroffen?
Das Hauptmerkmal des Stendhal-Syndroms ist, dass es sich um ein Phänomen handelt, das nur Touristen betrifft. Wie seit Jahrzehnten beschrieben, sind es nämlich Touristen, die eine emblematische Stadt, ihre Museen und ihre Kunstwerke besuchen und eine Reihe von psychiatrischen Symptomen dabei entwickeln; und nicht die Einwohner.
Das ist es, was Graziella Magherini in den ersten Beschreibungen des Zustands bekannt gemacht hat, ein Ereignis, das an sich schon bemerkenswert ist. Es erinnert sehr an das sogenannte Paris-Syndrom ; das heißt, die psychiatrischen Symptome, die einige Touristen entwickeln, wenn sie in die französische Hauptstadt reisen (diesmal wegen ihrer Ernüchterung und nicht wegen der Schönheit der Stadt). Bei Einwohner*innen von Paris kommt das Paris-Syndrom nicht vor, genau wie das beim Stendhal-Syndrom der Fall ist.
Welche Ausprägungen hat das Stendhal-Syndrom?
Was die Symptome des Stendhal-Syndroms anbelangt, so ist eine Vielzahl von Erscheinungsformen beschrieben worden. Sie werden im Allgemeinen in die folgenden Typen unterteilt:
- Denkstörungen: Am häufigsten treten Störungen in der Wahrnehmung von Farben und Tönen auf. Dies kann zu Verwirrung, Schwindel, Übelkeit und Erbrechen führen.
- Affektive Störungen: wie beispielsweise Euphorie, Ekstase, Aggression, Reizbarkeit, Traurigkeit, Depression, Minderwertigkeitsgefühle usw. Dies kann zu Weinkrämpfen führen.
- Angst und Panik: Nur ein geringer Teil der Touristen, die ein Stendhal-Syndrom entwickeln, zeigt Panikattacken und die charakteristischen Symptome einer Angststörung. Dazu gehören Herzrasen, Verwirrung, Angstzustände, Konzentrationsschwäche, rasende Gedanken, Schweißausbrüche, Müdigkeit und Handlungsunfähigkeit.
Dennoch sind die Symptome sehr vielfältig und es gibt keine einheitliche Ausprägung des Syndroms. Zum besseren Verständnis verweisen wir auf einen Artikel, der 2009 in BMJ Case Reports veröffentlicht wurde. Die Wissenschaftler*innen berichteten dort über die Veränderungen bei einem 72-jährigen kreativen Künstler und Absolventen der Bildenden Künste, der nach einer Reise nach Florenz eine Reihe von psychiatrischen Störungen entwickelte.
Die erste davon ereignete sich auf der Ponte Vecchio, wo er eine Panikattacke und eine Störung des Zeitempfindens erlebte. Diese Episode dauerte nur wenige Minuten an, allerdings folgten psychotische Erfahrungen.
So dachte er beispielsweise, dass er von internationalen Fluggesellschaften überwacht werde und dass sein Hotel abgehört werden würde. Seit diesem Zeitpunkt traten bei ihm einige dieser Symptome in Stressmomenten auf.
Was kann man tun, um das Stendhal-Syndrom in den Griff zu bekommen?
Es gibt keine Standard-Behandlung oder keinen standardisierten Weg, um mit dem Stendhal-Syndrom umzugehen. Viele Menschen, die das Stendhal-Syndrom entwickeln, haben in der Vergangenheit bereits psychiatrische Episoden erlebt – zum Beispiel Angstzustände, Depressionen oder chronischen Stress. In einigen Fällen, aber nicht in allen, ist das Syndrom mit diesen Episoden verbunden; sodass sie nach Ermessen von Spezialisten und Spezialistinnen behandelt werden können.
Wie Graziella Magherini berichtet, besteht die Lösung für das Syndrom anscheinend darin, den Ort, das Gemälde oder das Kunstwerk, das die Symptome verursacht hat, sofort zu meiden. Wenn möglich, beendet man sogar die Reise und kehrt in das Herkunftsland zurück. Letzteres ist natürlich eine radikale Lösung. Womöglich kann es daher ausreichen, den Auslöser der Symptome zu vermeiden.
Dabei kann man Atemübungen, Achtsamkeitsübungen und andere Strategien anwenden, um Angst und Panik zu lindern. Die Symptome sind stets vorübergehend und sollten also nicht lange anhalten. Es gibt keine formalen Erklärungen für das Syndrom, obwohl ein Kulturschock dahinter stecken kann, wenn die eigenen Erwartungen massiv enttäuscht wurden.
- Bar-el Y, Durst R, Katz G, Zislin J, Strauss Z, Knobler HY. Jerusalem syndrome. Br J Psychiatry. 2000 Jan;176:86-90.
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- Innocenti C, Fioravanti G, Spiti R, Faravelli C. La sindrome di Stendhal fra psicoanalisi e neuroscienze [The Stendhal syndrome between psychoanalysis and neuroscience]. Riv Psichiatr. 2014 Mar-Apr;49(2):61-6. Italian.
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