Aphantasia, die Unfähigkeit, sich etwas vorzustellen
Indem wir Bilder in unseren Köpfen erzeugen, können wir Objekte und Erfahrungen in ihrer Abwesenheit projizieren. Aber was passiert, wenn wir nicht in der Lage sind, solche Momente nachzubilden? Genau das bezeichnet die Aphantasie, und sie kommt häufiger vor, als man denkt.
Sir Francis Galton beschrieb das Phänomen als Erster im Jahr 1880, obwohl es seither unter Wissenschaftler:innen kein besonderes Interesse gefunden hat und kaum verstanden wird. Galton verglich es mit der Farbenblindheit, bei der die Betroffenen nur aufgrund von Beschreibungen eine Vorstellung von der wahren Farbe haben (in diesem Fall eine mentale Erfahrung). Schauen wir uns an, was über Aphantasie bekannt ist und welche Merkmale sie aufweist:
Merkmale der Aphantasie
Expert:innen definieren Aphantasie als “Unfähigkeit, mentale Bilder zu visualisieren”. Die Betroffenen zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine willentlich erzeugten internen Bilder zur Verfügung haben. Das Phänomen ist von Person zu Person unterschiedlich stark ausgeprägt, sodass die tatsächlichen Auswirkungen auf das tägliche Leben sehr variabel ausfallen.
Ein 2022 in Consciousness and Cognition veröffentlichter Artikel legt nahe, dass die Prävalenz der Aphantasie in der Allgemeinbevölkerung bei etwa 4 % liegt. Im Gegensatz dazu steht die Hyperphantasie, d. h. die Erzeugung sehr lebhafter mentaler Bilder. Zeman et al. haben den Begriff Aphantasie 2015 geprägt und bezeichnen damit die eingeschränkte oder völlig fehlende Fähigkeit mancher Menschen, mentale Bilder zu fabrizieren.
Diejenigen, die dieses Phänomen entwickeln, sind nicht in der Lage, sich an Aktivitäten zu beteiligen, bei denen es darauf ankommt, mentale Szenarien so zu gestalten, dass sie kohärent sind. Dazu gehören zum Beispiel:
- Das Lesen von Büchern
- das Üben des autobiografischen Gedächtnisses
- das Erkennen von Gesichtern
- das Nachdenken über nahestehende Personen.
Es ist wichtig zu wissen, dass die Unfähigkeit, mentale Bilder zu erschaffen, nicht auf mangelnde Anstrengung zurückzuführen ist, sondern vielmehr darauf, dass die Fähigkeit dazu fehlt.
Welche Ursachen hat Aphantasie?
Das Phänomen ist noch nicht ausreichend erforscht, sodass es Lücken über die genauen Mechanismen gibt. Zunächst beschrieben Zeman und sein Team 2010 den Fall einer Person, die nach einem kleinen chirurgischen Eingriff die Fähigkeit verloren hatte, mentale Bilder zu erzeugen.
Es gibt Hinweise darauf, dass Aphantasie mit naturwissenschaftlichen und mathematischen Berufen verbunden ist, während Hyperphantasie mit kreativen Berufen in Verbindung gebracht wird. Sie tritt auch häufiger in der Familie auf, was auf eine mögliche genetische Veranlagung hindeutet. Es wird vermutet, dass sich Aphastheniker und Nicht-Aphastheniker in der Konnektivität zwischen verschiedenen präfrontalen Regionen und dem visuellen okzipitalen Netzwerk des Gehirns unterscheiden.
Nach einer autologen Stammzelltransplantation wurden Fälle von Aphantasie berichtet. Das Phänomen wurde nicht mit Problemen in der Metakognition in Verbindung gebracht, sodass seine Ursachen bisher nicht in derartigen Problemen liegen.
Darüber hinaus kann das Vorliegen psychischer Störungen oder traumatischer Episoden ein Katalysator für das Auftreten von Aphantasie sein. Die Auslöser sind nicht gut erforscht und Studien in den kommenden Jahrzehnten sollten mehr Licht in diese Angelegenheit bringen.
Wie wäre es mit folgendem Artikel? Hyperthymesie: sich an alles im Detail erinnern
Folgen und Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Betroffenen
Wir haben bereits erwähnt, dass die Auswirkungen auf das tägliche Leben von Menschen mit Aphantasie sehr unterschiedlich sind. Die Strategien, die zur Bewältigung des Phänomens entwickelt wurden, der Beruf der betroffenen Person, ihr soziales Umfeld, die Intensität der Erkrankung und andere Variablen beeinflussen die tatsächlichen Auswirkungen. Dennoch sind hier einige typische Folgen der Aphantasie zu nennen:
- Verminderte Fähigkeit, Aufgaben auszuführen, die die Visualisierung von Bildern erfordern.
- Beeinträchtigte Fähigkeit, sich an Geräusche, Lieder, Sätze usw. zu erinnern (obwohl dies nicht direkt mit Aphantasie zusammenhängt, ist die Fähigkeit dazu etwas beeinträchtigt).
- Probleme, sich an episodische Ereignisse aus der Vergangenheit zu erinnern. Die Bandbreite reicht von vagen Erinnerungen bis hin zur völligen Unfähigkeit, sich an irgendetwas zu erinnern.
- Unfähigkeit oder Probleme, in die Zukunft zu schauen (z. B. Aktivitäten für den nächsten Tag zu planen).
- Unbehagen bei der Durchführung von Übungen zum geistigen Abschweifen.
- Reduzierte Traumerlebnisse während der Nachtruhe. Diese sind im Gegensatz zu Leuten, die keine Aphantasie haben, auch weniger lebhaft.
- Verminderte Fähigkeit zur räumlichen Visualisierung. Auch wenn dies leicht ausgeprägt ist, kann es die räumliche Navigation beeinträchtigen.
Aphantasie, ein angeborenes Phänomen?
Viele Menschen wissen nicht, dass sie eine Aphantasie haben, so wie viele nicht wissen, dass sie farbenblind sind. Meistens handelt es sich um ein angeborenes Phänomen, obwohl es, wie wir gesehen haben, auch erworben sein kann. Im Prinzip sollte Aphantasie kein großes Problem im Alltag darstellen; ihre Folgen können auf die eine oder andere Weise “abgefedert” werden.
Mehrere Menschen, die in kreativen Bereichen tätig sind, haben behauptet, einen gewissen Grad an Aphantasie zu haben. Zum Beispiel könnte man hier nennen:
- Ed Catmull (Mitbegründer von Pixar und ehemaliger Präsident der Walt Disney Animation Studios)
- Richard Herring (britischer Comedian und Potcast-Autor)
- Zelda Williams (U.S.-amerikanische Schauspielerin und Regisseurin)
- Blake Ross (Co-Erfinder des Webbrowsers Mozilla Firefox)
- Mark Lawrence (Fantasy-Autor)
und viele andere. Alle genannten Personen haben Strategien entwickelt, um diese Einschränkungen zu überwinden.
Das wissenschaftliche Interesse ist relativ jung, sodass im Laufe der Jahre ein besseres Verständnis der Natur und der Mechanismen der Aphantasie entstehen sollte.
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